
Nicao ist zwar in der Hip-Hop-Szene in Deutschland wie auch der Schweiz noch unbekannt, könnte aber durchaus die Zukunft des deutschsprachigen Rap jenseits der Saane verkörpern. Stilistisch erinnert er leicht an den deutschsprachigen Rapper Cro, hat aber zweifellos das Potenzial, seinen Stil in der Schweizer Szene neu zu erfinden. Seine erste, auf vielen Streaming Plattformen verfügbare EP nennt sich „Pessimist” und sie lohnt sich. Darüber hinaus hat er fast alle seiner Songs auf seinem Youtube Kanal « Nicao » veröffentlicht.
Inhalt auch auf Französich verfügbar
Mit 14 wusste Nicolas Weidt genau, was er mit seinen zehn Fingern anfangen sollte. Seine Hände verkrampften sich nie, wenn sie die Gitarre berührten. Sein Fingersatz war subtil, seine Neigung, sich von den Klängen seiner Lakewood mitreißen zu lassen, war so natürlich, dass er dazu nie besonders viel Theorie brauchte.
In seiner Heimatstadt Düsseldorf entdeckt der junge Mann die Poesie der kleinen Dinge des Lebens. In der weiten Landschaft, die sich vor seinen Augen auftut, nimmt er jedes noch so kleine Detail wahr. Er beobachtet tastend den Elan der Menschen um ihn herum, ihre Gewohnheiten, ihren tiefen Charakter. Ständig stellt er sich die Frage, welchen Platz er in dieser riesigen Welt einnehmen soll, die aus Labyrinthen und Geheimnissen besteht.
Wie die meisten Künstler sieht Nicolas Weidt das Leben in Schwarz und Weiß. Doch genau das erlaubt es ihm auch, dessen Reliefs zu unterscheiden und die Nähte aufzutrennen. Wie viele Künstler spielt er immer mit einem Gesichtsausdruck, der ein bisschen traurig ist, verloren in einer von anderen Menschen losgelösten Gedankenwelt. Für manche ist er lediglich ein vom Pessimismus geprägter Mensch. Für die anderen – die Menschen um ihn herum – ist er unbestreitbar ein tiefgründiger Mensch, der zu Mitgefühl und feinfühliger Aufmerksamkeit fähig ist. „Meine Musik ist nicht depressiv, aber ich glaube einfach, dass düstere Songs einen gewissen Appeal haben“, erläutert er.
Pessimist zu sein bedeutet nicht, unglücklich zu sein
Das heißt aber keinesfalls, dass man desillusioniert umkippt, wenn man ihm zuhört. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Nicao versteht es, uns mit traurigen Geschichten zum Lächeln zu bringen. Geschichten, die er uns auf einfühlsame Weise zu erzählen weiß. Man sagt, dass traurige Lieder sich oft an glückliche Menschen richten. Nichts könnte im Universum von Nicao weniger wahr sein. Dazu muss man sich nur den Titel Normal anhören, einen Song, in dem er seinen Stil noch mehr als üblich auf die Spitze treibt.„Die Geschichte ist im Grunde genommen lustig, auch wenn sie in einem nicht so lustigen Alltag spielt.”
Auch ändert sich ganz klar die Wahrnehmung, wenn er sagt, er wolle „Musik machen, damit sich die Leute wohlfühlen”. Mit seinem Pessimismus vergisst er manchmal auch den Blick von außen. „Leute, die ich kaum kenne sagen mir teilweise, dass meine Songs zu negativ wären. Auch wenn ich da nicht unbedingt widerspreche, ist es mir wichtig, mit meinen Titeln eine positive Botschaft zu vermitteln.” Er begann deshalb nach der Veröffentlichung seiner ersten EP Pessimist eine offenkundig fröhlichere Schaffensphase. Was er jedoch nicht geändert hat, ist die philosophische Dimension seiner Texte.
Um dies zu verstehen, sollte man sich eher mit den Titeln Lauf, Neuer Abschnitt oder Zeit beschäftigen, in denen er ganz bewusst eher die weissen als die schwarzen Tasten seiner Klaviatur anschlägt. Aber er weiß auch, dass niemand aus seiner Haut kann. „Ich sehe meine Schaffensperioden so gesehen als zyklisch.” Für einen sehr emotionalen und eher schüchternen Menschen steht ihm dies nicht allzu schlecht. Die Spirale zu stoppen, würde riskieren, dass seine Musik eintönig wird und sich völlig von seinem täglichen Leben löst.
Sein tägliches Leben – diese Welt, in der er lebt, die er zu betrachten und dann irgendwann zu verstehen begann. Mit vier Jahren streichelte er sie mit den Augen, mit zehn zeigte er mit dem Finger auf sie, mit 14 Jahren konnte er sie in Musik übersetzen und mit 16 konnte er sie schließlich mit seinen Songs beschreiben. Er wurde damals zum Songwriter und verstand es, den Hip-Hop-Stil mit einem besonders inspirierenden Blues zu verbinden. Dieser lange Entwicklungsprozess brachte ihn dazu, die Grauzonen in einem eigentlich sehr sonnigen Leben zu entdecken. Was ohne eine scharfe Beobachtungsgabe alles andere als einfach ist. Die Welt in immer neuen Facetten darzustellen, ist der eigentliche Beweggrund von Künstlern. Dessen überdrüssig zu werden, wäre für viele wie Sterben. Für Nicolas geht es vor allem darum, sich niemals untreu zu werden.

Tiefgründige Themen an der Grenze zum Prophetischen
Dies ist eine Realität (oder eher ein trauriger Aberglaube), die viele Fans des amerikanischen Raps wahrscheinlich nicht verstehen. Nehmen wir zum Beispiel Juice WRLD, XXXTentacion, Nick Blixky, Lil Loaded oder auch 21 Savage. Alle von ihnen haben eines gemeinsam: Sie kamen im Alter von 21 Jahren ums Leben.
Dieser verfluchte Teufelskreis ist seit langem von mehreren Künstlern aus dem weiteren Umkreis des amerikanischen Hip-Hop thematisiert worden. Juice WRLD selbst hatte das Thema in seinem, auf seiner EP „Too Soon“ veröffentlichen Titel „Legends“ aufgegriffen. Er erinnert darauf an den Tod von Lil Peep durch eine Überdosis am 15. November 2017 in seinem Tourbus in Tucson, Arizona. Er schrie damals heraus: „Was ist der Club der 27? Wir werden nicht älter als 21! »
Diese prophetischen Worte sind übrigens keine Seltenheit und auch Nicao hat das verstanden: In seinem Titel „Club 21“ greift er zu mitunter schwindelerregenden Worten. Darin schildert er in Anekdoten von gepanschtem Heroin und Codeinsucht die Schattenseiten des Star Daseins. Er will Teil des Club 21 werden. Auch dabei erinnern seine Texte an die Karriere und den Tod von Lil Peep. Tiefgründig und atemberaubend zugleich. „Mein Schulfoto auf dem Sarg bei der Beerdigung / Die Guten sterben reich, doch die Besten sterben jung“, heißt es darin.
Der Text verweist auch auf den Club 27. Kurt Cobain, Janis Joplin, Jim Morrison, Jimi Hendrix und Amy Winehouse gehören zu dieser traurigen Gruppe populärer Sänger, die im Alter von 27 Jahren starben – wie auch der 1969 verstorbene Brian Jones, Gründer der Rolling Stones, der mit seinem tragischen Tod auch den Club 27 gründete. An sie zu erinnern bedeutet auch, die Codes des amerikanischen Rap zu verstehen. Es bedeutet, sich mit dem Schicksal eines Lebens oder einer Karriere auseinanderzusetzen, die dann erfolgreich ist, wenn man jung und berühmt stirbt. Bei Nicao haben diese Worte natürlich mehr philosophischen als prophezeienden Charakter. Anders ausgedrückt: Ruhm, aber wofür?
Der Ruhm, dieser böse Traum
Nicolas ist kein junger Mann, der verzweifelt seinen uneingestandenen Träumen von Berühmtheit nachjagt. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Seine Träume holen ihn ein, wenn er versucht, sie zu verjagen. Nicht weil er das Unglück und das Vergessen liebt, sondern weil er es versteht, das Beste aus seinem vorübergehenden Weltschmerz zu machen – einem Weltschmerz, der von einem Gefühl von Ungerechtigkeit und Widersprüchen genährt wird. Eine seltsame Welt, in der die Erfüllung der tiefsten Sehnsüchte den Anfang vom Ende darstellt.
Er war nie jemand, der schon in jungen Jahren auf Erfolg aus war. Er dürfte sogar Angst vor diesem befremdlichen, vom Medienrummel bestimmten Leben gehabt haben. Er stand bislang nur bei seltenen Gelegenheiten auf der Bühne. Dies liegt jedoch weniger an fehlendem Talent als vielmehr an fehlenden Connections in einer hermetisch abgeriegelten Szene. Er hatte einige Auftritte in Düsseldorf, nahm an diversen Rap Battles teil und trat 2018 bei den German Songwriting Awards in Berlin auf. Wenige Monate später gab er in Düsseldorf ein Konzert vor 50 Zuhörern und im Sommer 2021 stellte er in der kleinen, wenige Kilometer von Sion entfernten Stadt Saint-Léonard erstmals einem Schweizer Publikum einen Auszug aus seinem Repertoire vor.
Es ist allerdings nicht ganz einfach, das Räderwerk so unterschiedlicher Szenen in Berlin und Düsseldorf und der Schweiz zu verstehen. „In Berlin findet man oft Musik mit wenig Profil, zu glatt und zu flach. Viele Rapper schreiben nichtmal ihre eigenen Texte, das ist irgendwie fake.“, so Nicolas. Es ist nicht einfach, sich dort wohl zu fühlen. Er kann sich ein Leben dort jedenfalls nicht vorstellen. In der Schweiz stellt er hingegen eine anspruchsvollere, etwas filigranere Szene fest.
Nicolas graut es vor musikalischen Eintagsfliegen, die nur eine kurze Zeit lang bewundert werden und ein paar Jahre später in der Versenkung verschwinden. Er hasst Künstler, die ohne ihr Zutun bekannt werden, und kein echtes musikalisches Fundament vorweisen können. Kurz gesagt: Er hasst vergeudete Talente, Talente, die verpuffen. Dies war insbesondere bei einigen Künstlern der Fall, die den Frat Rap verkörperten, eine unbeschwerte Art des Raps, der nie wirklich Bestand hatte und eher für einen flüchtigen Schritt auf dem Weg der künstlerischen Entwicklung stand. Der Umstand, dass die meisten seiner Pioniere sich bei der ersten Gelegenheit von ihm abwandten, sagt viel über dieses Genre aus. Asher Roth, dessen Titel „I Love College“ 2009 das Genre wiederbelebte, hat seitdem nichts Vergleichbares mehr produziert. Für manche, wie auch für Nicolas, lohnt sich diese blitzartige Popularität wirklich nicht. Er ist kein Künstler, der zufällig auf dem Radar entdeckt wird, diese Vorstellung lehnt er kategorisch ab. Journalisten, die ihn entdecken wollten, mussten deshalb bisher ihre eigenen Recherchen anstellen. Er selbst hatte bisher nichts unternommen, um den Medienvertretern seine Musik vorzustellen.

Ein Repertoire aus soliden Schwächen
Aktuell hat Nicao eine EP und einige Songs auf Youtube vorzuweisen. Kreationen, die alle auf eine Popularität verweisen, die noch vollständig aufgebaut werden muss. Er versucht immer, einen roten Faden in seiner Musik zu bewahren. Es reicht nicht, die Songs nur zu schreiben, Nicolas produziert, mischt und mastert fast alle seine Tracks allein. An dieser Bündelung und Konstruktion eines Ganzen wird intensiv gearbeitet, aber sie ist – so der Künstler – noch nicht abgeschlossen.
Nicolas ist nicht bloß ein Studio Rapper, sondern auch ein ausgezeichneter Freestyler. Er braucht nicht lang, um spontan die richtigen Worte zu finden und sie in Reime zu verpacken. In einem Battle, das er an einem Abend im Jahr 2017 in Köln vor mehreren Dutzend Leuten austrug, hatte er zum ersten Mal den Mut, sich mit anderen Rappern zu messen. Seine künstlerischen Einflüsse waren damals offensichtlich, dennoch erkannte man auch zu dieser Zeit klar seinen eigenen Stil.
Wenn seine Welt mit der jenseits der Saane bereits bekannten Szene konfrontiert wird, bleibt Nicao ein Künstler mit einer einzigartigen Sensibilität, der sein Handwerk als Rapper versteht.
Allerdings reicht das allein nicht aus, um langfristig als Künstler bestehen zu können. Nicao arbeitet jetzt deshalb stärker an der Musikalität seiner Stücke. Mehr Melodie und weniger klassischer Rap. Dies ist der richtige Weg, um ein breiteres Publikum anzusprechen, das weniger eng mit der Hip-Hop-Szene verbunden ist. Nicolas arbeitet deshalb als Erstes an der Musik seiner neuen Titel. Er komponiert sie vollständig durch und schreibt danach seine eigenen Texte. Dadurch stellt er die volle Kontrolle über seine Kreationen sicher. „So habe ich die Freiheit, alles so zu gestalten, wie ich mir das vorstelle“, so Nicolas.
„Sich von der Musik treiben zu lassen, ist eine Sache, aber es ist es ziemlich zeitaufwändig, einen stimmigen Song zu produzieren. Das erfordert viel Reflexion und man muss die eigenen Ideen oft hinterfragen.” Dieser Perfektionismus entspricht voll und ganz dem Charakter des jungen Mannes. Als professioneller Tontechniker verfügt er über die Fähigkeit und das Fachwissen, um die Qualität seiner Kreationen beurteilen zu können. Dieses Wissen erlaubt es ihm auch, Dinge immer etwas anders zu machen, als es andere vielleicht tun würden.
Aus Leidenschaft für die Musik zog er nach Berlin, um dort Audio Design zu studieren. Er dachte, dass dieser Weg ihn seinem Traum vielleicht ein Stück näher bringen würde. Doch die Realität sieht anders aus: Das Tonstudio, bei dem er derzeit arbeitet, produziert keine Musik, sondern vor allem Podcasts, Dokumentationen und Hörbücher. Doch die Arbeit als Tontechniker verhalf Nicolas zu mehr Expertise in der Musikproduktion und war ein Türöffner zu seinem neuen Berufsfeld als Autor, Sprecher und Regisseur. Und das ist schon etwas. Wer weiß, mit etwas Glück und Ehrgeiz, könnte sich der Traum vom Musikerdasein vielleicht irgendwann doch noch erfüllen. Eins steht jedenfalls fest: Nicao ist ein Künstler, den man im Auge behalten sollte…